Dumm geboren und nichts dazugelernt? Intelligenzforschung zwischen Rassismus und flexiblen Erbanlagen

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Erstsendung: 10.04.2014, Ein Film von John A. Kantara

Gibt es geborene Verlierer und solche, denen alles bereits in die Wiege gelegt wurde? Der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin behauptet: „Intelligenz ist erblich. Darum ist es nicht egal, wer die Kinder bekommt.“
Er glaubt, zu 80 Prozent seien die Gene verantwortlich, weshalb er Probleme bei türkischen oder allgemein muslimischen Immigranten sieht. Diese Bevölkerungsgruppen seien einerseits unterdurchschnittlich intelligent, andererseits aber sehr gebärfreudig, dadurch nehme der Intelligenzquotient allmählich ab, behauptet Sarrazin und sieht seine Thesen in der Wissenschaft bestätigt.

 

Renommierte Intelligenzforscher wie Elsbeth Stern von der ETH Zürich widersprechen jedoch Sarrazins Verdummungsthese. Sie sagt: „Eltern und Kinder zeigen nur eine mittelhohe Übereinstimmung im Intelligenzquotienten. Unterdurchschnittlich intelligente Eltern können überdurchschnittlich intelligente Kinder haben und umgekehrt.“ Erst wenn die sozialen Bedingungen für alle Kinder gleich gut seien, könnten die Gene ihre Macht ausspielen.

Was ist dran an Sarrazins Thesen? Eine Bildungsreise in Sachen Intelligenzforschung –

 

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Die Mär vom genetischen Ghetto

Thilo Sarrazin
Thilo Sarrazin am Sozialpalast Berlin-Schöneberg
Es gibt tatsächlich Leistungsunterschiede zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. So schaffen viele Migranten in Berlin noch nicht einmal die Hauptschule. Was sind die Gründe dafür?
Thilo Sarrazin:
„Das ist die Formel, die 98 % aller wissenschaftlichen Meinungen abbildet, dass die gemessene Intelligenz zu 50 bis 80 % erblich ist – ich persönlich tendiere eher zu 80 Prozent. Und wenn die Gruppen unterschiedlicher Intelligenz unterschiedliche Geburtenraten haben, wirkt sich dies irgendwann aus auf die Durchschnittsintelligenz der Bevölkerung.“
Was der ehemalige Berliner Finanzsenator behauptet ist scheinbar logisch. Aber stimmt das auch? Sind wir als Kinder unserer Eltern wirklich in einer Art genetischem Ghetto gefangen, aus dem es kein Entrinnen gibt? Zunächst ein Blick in die Geschichte der Intelligenzforschung: Sie wurde von Beginn an dazu benutzt, Menschen unterschiedlicher Abstammung zu vergleichen und zu bewerten. Im 19. Jahrhundert veröffentlichte Francis Galton sein Werk „Hereditary Genius“.

Er teilt darin die Menschheit in wertvolle und weniger wertvolle „Rassen“ ein und prägt den Begriff der „Eugenik“, womit die gezielte Verstärkung vorteilhafter Vererbungsmerkmale einer Gesellschaft gemeint ist. Galton legte so den Grundstein für die Rassen- und Vererbungsideologie der Nazis. Nach dieser naiven Vorstellung von Vererbung addiert sich schlau und schlau zu superschlau, während aus dumm und dumm nur sehr dumm resultieren kann.

Thilo Sarrazin:
„Intelligenz ist erblich. Darum ist es nicht egal wer die Kinder bekommt. Bildung ist wichtig, darum ist es nicht egal, was man für ein Bildungssystem hat. Eins gilt aber auch: Man kann durch mehr Bildung mindere Intelligenz nur zu einem gewissen Teil ausgleichen.“

Intelligenz lässt sich nicht dominant vererben

Die Versuchung ist offenbar noch heute groß, Intelligenz als einen biologischen Faktor zu betrachten, der in verschiedenen Ethnien unterschiedlich wirkt. Gibt es diese genetischen Unterschiede wirklich? Und wenn ja, wie wirken sie sich auf die Intelligenz aus? Diethard Tautz ist Populationsgenetiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön. Er hält den Versuch, Ethnien biologisch zu unterscheiden, für wissenschaftlich fragwürdig.

Diethard Tautz, Populationsgenetiker:
„Der Mensch gehört zu einer der homogensten Spezies überhaupt, die wir auf der Erde haben. Eigentlich gibt es keine „Rassen“ in dem biologischen Sinne, sondern das ist jeweils wahrscheinlich eher sogar eine kulturelle Einteilung als eine gut begründete genetische Einteilung. Tatsache ist, dass Eigenschaften grundsätzlich voneinander unabhängig vererbt werden, so eine Kopplung, wie man das genetisch sagen würde, ist zumindest zwischen Intelligenz und Hautfarbe nicht nachweisbar.“
Die Mendelschen Vererbungsregeln beschreiben den dominant-rezessiven Erbgang von Merkmalen, die durch ein einziges Gen bestimmt werden. Die Wissenschaft weiß aber heute, dass bestimmte Eigenschaften, wie Körpergröße, Gewicht und Pigmentierung, durch eine Vielzahl von Genen bestimmt werden. Gilt das auch für die Intelligenz?

Diethard Tautz, Populationsgenetiker:
„Intelligenz ist mit Sicherheit durch viele Gene mitbestimmt, also es hat eine genetische Komponente, da gibt es gar keinen Zweifel. In unserem Fachjargon heißt das dann polygenes Merkmal. Und die Regeln der Vererbung polygener Merkmale wiederum sind eigentlich Gegenstand aktiver Forschung, mit der wir uns auch beschäftigen. Die haben wir noch nicht wirklich vollständig verstanden.“
Bei jedem Kind würfelt die Natur die Gen-Kombinationen neu zusammen. Intelligenz lässt sich nicht dominant vererben wie etwa die Augenfarbe, das kann die Wissenschaft heute definitiv sagen. Thilo Sarrazins Verdummungsthese lässt sich durch die Populationsgenetik jedenfalls nicht belegen.

Der IQ – Näherungswert mit wenig Aussagekraft

Measuring Brainwaves
Measuring Brainwaves
Das Wesen der Intelligenz ist schwer fassbar. Schon die Definition des Begriffs ist seit mehr als 100 Jahren umstritten. Aber Intelligenztests gehören seit Jahrzehnten zum Standardwerkzeug der Psychologen.
Intelligenz ist immer das, was die jeweilige Gesellschaft dafür hält – und das wird naturgemäß von jeder Gesellschaft anders definiert – und versucht zu messen. An der Bremer Universität entwickelt der Psychologe Franz Petermann die Methoden, um Intelligenz zu messen. Genauer gesagt, er passt amerikanische Intelligenztests für den deutschen Markt an. Die besondere Schwierigkeit liegt offenbar darin, Standards zu etablieren. Also Fragestellungen, die wiederholbare Ergebnisse liefern und eine Aussage darüber zulassen, wie intelligent jemand im Vergleich zu anderen Menschen seiner Altersgruppe ist.

Franz Petermann, Psychologe:
„Wenn man populär fragen würde, was macht eigentlich Intelligenz aus? Wie gut mein Gedächtnis ist. Weil das ist der Speicher, der mir hilft, Informationen herauszuholen mit denen ich dann Probleme löse. Auch wie schnell ich die Informationen abrufen kann, wie schnell ich Informationen verarbeiten kann, das wären alles ganz entscheidende Merkmale, die zur Beschreibung von Intelligenz dazu gehören. Oder denken Sie an was man wahrscheinlich zuerst denkt – logisches Denken. Wer intelligent ist, kann Probleme lösen, und kann logisch denken.“

Ein überdurchschnittlicher IQ ist kein Erfolgsgarant

Die meisten Menschen, erklärt Petermann, sind eher durchschnittlich begabt. 68 Prozent liegen in der Nähe des Mittelwertes. Etwa 14 Prozent sind überdurchschnittlich intelligent und ebenso viele unterdurchschnittlich. Die Ergebnisse werden immer ins Verhältnis gesetzt zum Alter der Testperson, deshalb spricht die Wissenschaft vom Intelligenz-Quotienten. Intelligenz-Tests messen im Wesentlichen drei Bereiche: logisch-mathematisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen und den individuellen Wortschatz. Mehr nicht. Zu etwa 30 Prozent lässt sich die Leistung in Schule oder Beruf durch diese messbare Intelligenz erklären oder vorhersagen, meinen die Experten. Für eine Wettervorhersage wäre eine Treffsicherheit von 30 Prozent nicht gut genug. Aber auch ein überdurchschnittlicher IQ ist eben kein Garant für schulischen und sozialen Erfolg. Dazu gehören Motivation, Selbstdisziplin und Fleiß. Also die Leistungsbereitschaft.

Franz Petermann, Psychologe:
„Die Leistung in einem Intelligenztest hängt von der Tagesform, vor allem von der Motiviertheit der Versuchsperson ab. Man darf nicht an die Intelligenzpunkte Eins zu Eins glauben. Ich glaub, das ist der allergrößte Fehler. Ich kann auch mit einer durchschnittlichen Intelligenz von 100 Meisterleistungen, auch im Schulischen, auch im Akademischen bringen, ich muss nur gut adaptiert sein an die Aufgaben, die mir Tag für Tag gestellt werden. Es ist sehr, sehr naiv der Zahl zu glauben, die ein Intelligenztest produziert.“
IQ-Tests produzieren nur Näherungswerte, keine absoluten Werte. Die gibt es einfach nicht. Trotzdem gelten IQ-Tests immer noch als das aussagekräftigste Hilfsmittel der Psychologie.

Franz Petermann, Psychologe:
„Intelligenz per se ist für mich weder gesellschaftlich noch moralisch noch individuell ein Wert an sich. Sondern der verantwortungsvolle Umgang mit der Intelligenz und das Leben, was die Rahmenbedingungen setzt, die Potentiale, die man hat, auch zu erschließen. Intelligenz ist ein Potential. Die Leistung, die nachher raus kommt, die hängt von vielen, vielen anderen Dingen ab.“

Kognitive Fähigkeiten sind ein Spiegel der Umwelt

Measuring Brainwaves
Measuring Brainwaves

 

In Zürich erforscht Elsbeth Stern, wie wir Menschen lernen, unsere Intelligenzpotentiale zu entwickeln. Intelligenz ist zum Teil eine Lotterie der Gene. Aber was braucht es, damit sich das individuelle Intelligenzpotential eines Menschen entwickeln kann?

Kein Lernforscher kommt ohne IQ-Tests aus. Sie bilden die empirische Grundlage, um intellektuelle Leistungen unterschiedlicher Menschen überhaupt vergleichen zu können. Doch die Sache hat einen Haken: Intelligenztests beziehen sich immer nur auf eine homogene Gruppe. Ein afrikanischer Buschmann braucht in der Kalahari eine andere Intelligenz als ein Wall-Street-Banker. Das bedeutet: Jede Kultur bräuchte ihre eigenen Intelligenz-Tests.
Elbeth Stern
Elsbeth Stern, Intelligenzforscher:
„Intelligenz, die kann ich nur entfalten, wenn ich vor Probleme gestellt werde, die Intelligenz erfordern, wenn ich lesen und schreiben gelernt habe, wenn ich gelernt habe mit abstrakten Symbolen umzugehen, wenn mir die überhaupt präsentiert wurden. Man kann die allerbesten Gene für Intelligenz mitbringen, wenn man in eine Kultur kommt, wo weder lesen noch schreiben üblich ist, dann wird man nicht die Intelligenz, so wie wir sie verstehen, entwickeln können.“

Die Folgen von sozialer Vernachlässigung

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Bis heute hält sich hartnäckig die These, dass die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen weitgehend unter genetischer Kontrolle stehen. Eine These, die auch im Bestseller „The Bellcurve“ von Charles Murray und Richard Herrnstein vertreten wird. Murray und Herrnstein glaubten, dass viele soziale Probleme durch einen unveränderbar niedrigen IQ schwarzer Amerikaner und Latinos zu erklären seien. Es ist Thilo Sarrazins Vorstellung von einer Art genetischem Ghetto, aus dem es kein Entrinnen gibt. Förderprogramme und Sozialleistungen wären dann sinnlos.

Der Sozialpsychologe Richard Nisbett studiert seit Jahrzehnten die Folgen von sozialer Vernachlässigung auf die Entwicklung von Intelligenz. Nisbett ist zu hunderten Familien gegangen, hat Beobachtungen gemacht und Fragen gestellt: Und so Unterschiede bemerkt. Ein typisches Beispiel: Ein dreijähriges Kind einer Mittelklassefamilie wird sechsmal gelobt bevor es einmal getadelt wird. In einer Arbeiterfamilie ist das Verhältnis schon auf zwei Belobigungen pro Tadel gesunken. In einer schwarzen Unterschichtfamilie, hat sich das Verhältnis umgedreht: pro Belobigung gibt es zwei Tadel.

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Richard Nisbett
Richard Nisbett, Sozialpsychologe:
„Es gibt große Unterschiede in Bezug auf den Wortschatz, dem Kinder – je nach sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit ausgesetzt sind. Ein Kind der Mittelschicht hört bis zu seinem dritten Geburtstag ungefähr 30 Millionen Wörter. Ein Arbeiterkind rund 20 Millionen und ein schwarzes Ghettokind rund 10 Millionen Wörter. Über soziale Schichtgrenzen hinweg gilt: Je mehr Wörter man hört, desto mehr Konzepten ist man ausgesetzt. In Mittelklassefamilien ist es wie bei einem Tennisspiel. Das Kind schlägt den Ball zu den Eltern und die retournieren. Es ist ein hin- und her. In Arbeiterfamilien ist es oft eine Einbahnstraße: Eltern zum Kind oder umgekehrt. Und das war´s. Dort gibt es diesen Schlagabtausch nicht.“

Die Umwelt ist der treibende Faktor

Ist das Lernverhalten in Familien angeboren? Oder haben kulturelle und soziale Unterschiede den größeren Einfluss auf die intellektuellen Potentiale der Kinder? Die neuen Befunde der Intelligenzforschung deuten alle in eine Richtung: Die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen sind ein Spiegel seiner Umwelt.

Richard Nisbett, Sozialpsychologe:
„Für die obere Mittelschicht lässt sich der IQ in sehr starkem Maß durch die Gene erklären. Warum? Nun, dort sind die Umweltbedingungen sehr gleichförmig. Dr. Schmidts Familienverhältnisse sind wahrscheinlich nicht viel anders als die von Anwalt Meier. Beide bieten exzellente, gleichförmige Umweltbedingungen. Das einzige was hier noch Unterschiede hervorbringen kann, sind die Gene. Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums, in der Unterschicht in den USA und in Europa, ist der Zusammenhang zwischen Genen und IQ geradezu trivial fast nicht existent. Warum? Nun, in der Unterschicht rangieren die Verhältnisse von so gut wie man es in der oberen Mittelklasse findet bis zu in jeder Hinsicht chaotisch und zerstörerisch. Wenn es so riesige Unterschiede gibt, ist die Umwelt der treibende Faktor. Gene zählen dann so gut, wie überhaupt nicht.“

Intelligenz entwickelt sich proportional zur Stimulation

Die Entwicklung unseres intellektuellen Potentials wird direkt durch unsere Umwelt gesteuert. Eine weltweit einmalige Studie, die dies besonders eindrücklich beweist, führt nach Rumänien.
In den Jahren der Ceauşescu-Diktatur sollten dort möglichst viele Kinder geboren werden. Die Stärksten wurden für den Staat rekrutiert, die Schwächsten – Kinder mit Behinderung, chronisch Kranke, oder einfach nur unterernährte Kinder – wurden in Waisenhäuser abgeschoben. Erst das Ende des Regimes 1989 beendete die menschenverachtende Vernachlässigung der Kinder. Private oder kirchliche Hilfsorganisationen haben sich der vielen elternlosen Kinder angenommen. Das Pro Vita Kinderheim von Pater Nicolae Tanase hat in den letzten zwanzig Jahren 3000 Kindern Zuflucht geboten. Von Spenden aus dem Ausland unterstützt, leben heute noch über 400 Kinder unter seiner Aufsicht. Pater Tanase hat die verheerenden Auswirkungen von Verwahrlosung immer wieder deutlich vor Augen geführt bekommen.
Pater Nicolae Tanase:
„Es gibt mehrere Faktoren, die für eine gesunde Entwicklung nötig sind. Einmal das genetische Potential des Kindes und dann natürlich die Bildung und welchen Leidensweg es hatte. Denn wenn ein Teller bricht, ist es sehr schwer ihn wieder zusammenzufügen. Selbst wenn man es schafft, wird es nicht mehr der Selbe sein. Es gibt keine 100-prozentige Erholung.“

Eine weltweit einmalige Studie

Pics from filming my documentary on Intelligence - IQ
Pics from filming my documentary on Intelligence – IQ

Doch welche Folgen hat die systematische Vernachlässigung von Kindern? Eine Frage, die Wissenschaftler interessiert. Isolationsexperimente an Menschen sind ethisch nicht vertretbar. Das „Bucharest Early Intervention Project“ ist deshalb eine weltweit einmalige Studie. Unter Aufsicht einer Ethikkommission entwickelten Wissenschaftlern der amerikanischen Harvard University ein außergewöhnliches Experiment. Die Forscher vergleichen die Entwicklung von Kindern, die gleich schlechte Startbedingungen in ihrem Leben hatten. Ein Teil von ihnen wurde in Pflegefamilien vermittelt. Die anderen mussten in Waisenhäusern zurückbleiben, weil es für über 150.000 Kinder in rumänischen Heimen 1990 einfach nicht genug Pflegefamilien gab. Die Studie brachte bahnbrechende Erkenntnisse.

Anca Radulescu:
„Je früher die Vernachlässigung eines Kindes beginnt, und je länger sie dauert, desto mehr wird die Hirnentwicklung und dadurch die Intelligenz beeinträchtigt. Diese Ergebnisse haben wir durch die Erforschung zweier Gruppen bestätigen können. Die Heimkinder bekamen, verursacht durch zu wenig Betreuung und emotionale Zuneigung, weiterhin eine sehr geringe Stimulation, während die Pflegekinder durch die enge familiäre Betreuung eine viel größere emotionale Stabilität aufbauen konnten.“
Die Pflegekinder hatten einfach mehr emotionale Sicherheit, Verlässlichkeit, und Lernerlebnisse. Denn Intelligenz entwickelt sich proportional zu der Qualität, Quantität und Regelmäßigkeit der Stimulation durch die Umwelt. Besonders dann, wenn die Pflegeeltern die Kinder ermutigen, die eigene Umwelt zu erforschen. Die ersten der 136 Waisen, die im Alter zwischen 6 und 31 Monaten für die Studie ausgewählt wurden, sind heute bereits 15 Jahre alt. Ihre Pflegefamilien wurden über die gesamte Zeit intensiv betreut und beobachtet. Dabei lautete die Kernfrage immer wieder: Welche Auswirkung hatte die Vernachlässigung in frühester Kindheit auf ihre Intelligenz?

Deutliche Unterschiede der Hirnströme

Schon die ersten Messungen der Hirnströme zeigten bei den Kindern, die im Heim verbleiben mussten, eine deutlich geringere elektrische Aktivität, die auch mit einem sehr geringen IQ von knapp 70 korrespondierte. Kinder, die in Pflegefamilien aufwuchsen, hatten dagegen einen IQ von 80 bis 90. Das Aufwachsen in Pflegefamilien steigerte offensichtlich die Intelligenz. Doch Hirnscans brachten auch ein deprimierendes Ergebnis: Alle Kinder der Studie zeigten im Vergleich zu normal aufwachsenden Kindern eine deutliche Reduzierung von grauen Zellen und weißer Materie im Gehirn.

Anca Radulescu:
„Wenn die Vernachlässigung eines Kindes schon früh beginnt und lange anhält, ist eine Erholung fast unmöglich, denn die neuronalen Verbindungen im Gehirn eines Kindes, das Missbrauch oder Vernachlässigung erfährt, entwickeln sich nicht richtig. Wenn diese neuronalen Verbindungen gestört sind, können sie ihre Intelligenz nicht entwickeln.“
Man lernt ein Leben lang. Aber was in der frühesten Kindheit an Zuwendung und emotionaler Stabilität versäumt wird, lässt sich, unabhängig vom ererbten individuellen Intelligenzpotential, nur schwer kompensieren.

Der Einfluss der Gene ist flexibel und veränderbar

Wie wirken sich Umwelteinflüsse auf die Intelligenz aus? Andre Fischer forscht in einem Spezialgebiet der Biologie – der Epigenetik – und untersucht, welche Bedingungen notwendig sind, um die Aktivität von Genen zu steuern.
Die Epigenetik beweist inzwischen, dass Erbe und Umwelt auf komplizierte Weise miteinander agieren. Einzelne DNA-Abschnitte werden je nach Umweltbedingungen an- oder abgeschaltet. Chemische Markierungen an der Erbsubstanz entscheiden dann darüber, ob die Gene lesbar sind oder nicht. Stress, Einsamkeit, Angst oder Unterernährung können die Art und Weise verändern, wie die Gene arbeiten.
Ein gutes Gedächtnis ist ein Hinweis auf Intelligenz. Also macht Andre Fischer Versuche mit Mäusen zur Gedächtnisleistung – ein „IQ-Test für Nager“. Können sich die Versuchsmäuse an verschiedene Objekte erinnern? Die Mäuse sind Klone – genetisch sind sie völlig identisch. Die Wissenschaftler haben zudem dafür gesorgt, dass die Tiere unter völlig gleichen Bedingungen aufwachsen. Unterschiede in der Lernleistung dürfte es somit eigentlich nicht geben. Dann verändern die Forscher die Umweltbedingungen der Mäuse. Einer Mäusegruppe wird ein Sportangebot gemacht. Während die einen trainieren, bleiben die anderen faul.

Intelligenz braucht eine stimulierende Umwelt

Das Ergebnis ist eindeutig: Durch das Fitnesstraining zeigen sich die sportlichen Mäuse bei den Gedächtnistests leistungsfähiger als die untrainierten Nager. Ein tiefer Blick in den Hippocampus der Mäuse – das ist der Teil im Gehirn mit den evolutionär ältesten Strukturen – erklärt warum.

Andre Fischer, Epigenetiker:
„Was man sieht, ist das dieses Muster von 700 Genen korreliert mit der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Aktivität der Gene in den Nervenzellen in dieser Hirnregion, die wichtig ist für die Gedächtnisabspeicherung korreliert. Es gibt halt Gene, die sind blau, und die werden rot, je besser die Maus den Test lernt.“

Das heißt: Wie sich Gene auf die geistigen Funktionen und das Verhalten auswirken, ist höchst flexibel und veränderbar! Doch Mäuse sind keine Menschen. Trotzdem ist klar: Intelligenz braucht eine stimulierende Umwelt, sonst kann sie sich nicht entwickeln.

Elsbeth Stern, Intelligenzforscher:
„Ich bin auch ganz sicher, dass in Migrantenpopulationen in Deutschland sehr viel IQ-Potential schlummert, was sich bisher nicht entfalten konnte. Wahrscheinlich bei Mädchen und Jungen gleich viel, weil die Kinder nicht früh sprachlich gefördert wurden, weil die Schulbildung wegen Sprachproblemen an ihnen vorbei gegangen ist. Also da ist sicherlich mehr zu holen, als wir bisher rausholen, und das ist ein schlimmes Versäumnis.“

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