Dumm geboren und nichts dazugelernt? Intelligenzforschung zwischen Rassismus und flexiblen Erbanlagen
Erstsendung: 10.04.2014, Ein Film von John A. Kantara
Renommierte Intelligenzforscher wie Elsbeth Stern von der ETH Zürich widersprechen jedoch Sarrazins Verdummungsthese. Sie sagt: „Eltern und Kinder zeigen nur eine mittelhohe Übereinstimmung im Intelligenzquotienten. Unterdurchschnittlich intelligente Eltern können überdurchschnittlich intelligente Kinder haben und umgekehrt.“ Erst wenn die sozialen Bedingungen für alle Kinder gleich gut seien, könnten die Gene ihre Macht ausspielen.
Was ist dran an Sarrazins Thesen? Eine Bildungsreise in Sachen Intelligenzforschung –
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Die Mär vom genetischen Ghetto
„Das ist die Formel, die 98 % aller wissenschaftlichen Meinungen abbildet, dass die gemessene Intelligenz zu 50 bis 80 % erblich ist – ich persönlich tendiere eher zu 80 Prozent. Und wenn die Gruppen unterschiedlicher Intelligenz unterschiedliche Geburtenraten haben, wirkt sich dies irgendwann aus auf die Durchschnittsintelligenz der Bevölkerung.“
Er teilt darin die Menschheit in wertvolle und weniger wertvolle „Rassen“ ein und prägt den Begriff der „Eugenik“, womit die gezielte Verstärkung vorteilhafter Vererbungsmerkmale einer Gesellschaft gemeint ist. Galton legte so den Grundstein für die Rassen- und Vererbungsideologie der Nazis. Nach dieser naiven Vorstellung von Vererbung addiert sich schlau und schlau zu superschlau, während aus dumm und dumm nur sehr dumm resultieren kann.
„Intelligenz ist erblich. Darum ist es nicht egal wer die Kinder bekommt. Bildung ist wichtig, darum ist es nicht egal, was man für ein Bildungssystem hat. Eins gilt aber auch: Man kann durch mehr Bildung mindere Intelligenz nur zu einem gewissen Teil ausgleichen.“
Intelligenz lässt sich nicht dominant vererben
Die Versuchung ist offenbar noch heute groß, Intelligenz als einen biologischen Faktor zu betrachten, der in verschiedenen Ethnien unterschiedlich wirkt. Gibt es diese genetischen Unterschiede wirklich? Und wenn ja, wie wirken sie sich auf die Intelligenz aus? Diethard Tautz ist Populationsgenetiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön. Er hält den Versuch, Ethnien biologisch zu unterscheiden, für wissenschaftlich fragwürdig.
„Der Mensch gehört zu einer der homogensten Spezies überhaupt, die wir auf der Erde haben. Eigentlich gibt es keine „Rassen“ in dem biologischen Sinne, sondern das ist jeweils wahrscheinlich eher sogar eine kulturelle Einteilung als eine gut begründete genetische Einteilung. Tatsache ist, dass Eigenschaften grundsätzlich voneinander unabhängig vererbt werden, so eine Kopplung, wie man das genetisch sagen würde, ist zumindest zwischen Intelligenz und Hautfarbe nicht nachweisbar.“
„Intelligenz ist mit Sicherheit durch viele Gene mitbestimmt, also es hat eine genetische Komponente, da gibt es gar keinen Zweifel. In unserem Fachjargon heißt das dann polygenes Merkmal. Und die Regeln der Vererbung polygener Merkmale wiederum sind eigentlich Gegenstand aktiver Forschung, mit der wir uns auch beschäftigen. Die haben wir noch nicht wirklich vollständig verstanden.“
Der IQ – Näherungswert mit wenig Aussagekraft
„Wenn man populär fragen würde, was macht eigentlich Intelligenz aus? Wie gut mein Gedächtnis ist. Weil das ist der Speicher, der mir hilft, Informationen herauszuholen mit denen ich dann Probleme löse. Auch wie schnell ich die Informationen abrufen kann, wie schnell ich Informationen verarbeiten kann, das wären alles ganz entscheidende Merkmale, die zur Beschreibung von Intelligenz dazu gehören. Oder denken Sie an was man wahrscheinlich zuerst denkt – logisches Denken. Wer intelligent ist, kann Probleme lösen, und kann logisch denken.“
Ein überdurchschnittlicher IQ ist kein Erfolgsgarant
Die meisten Menschen, erklärt Petermann, sind eher durchschnittlich begabt. 68 Prozent liegen in der Nähe des Mittelwertes. Etwa 14 Prozent sind überdurchschnittlich intelligent und ebenso viele unterdurchschnittlich. Die Ergebnisse werden immer ins Verhältnis gesetzt zum Alter der Testperson, deshalb spricht die Wissenschaft vom Intelligenz-Quotienten. Intelligenz-Tests messen im Wesentlichen drei Bereiche: logisch-mathematisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen und den individuellen Wortschatz. Mehr nicht. Zu etwa 30 Prozent lässt sich die Leistung in Schule oder Beruf durch diese messbare Intelligenz erklären oder vorhersagen, meinen die Experten. Für eine Wettervorhersage wäre eine Treffsicherheit von 30 Prozent nicht gut genug. Aber auch ein überdurchschnittlicher IQ ist eben kein Garant für schulischen und sozialen Erfolg. Dazu gehören Motivation, Selbstdisziplin und Fleiß. Also die Leistungsbereitschaft.
„Die Leistung in einem Intelligenztest hängt von der Tagesform, vor allem von der Motiviertheit der Versuchsperson ab. Man darf nicht an die Intelligenzpunkte Eins zu Eins glauben. Ich glaub, das ist der allergrößte Fehler. Ich kann auch mit einer durchschnittlichen Intelligenz von 100 Meisterleistungen, auch im Schulischen, auch im Akademischen bringen, ich muss nur gut adaptiert sein an die Aufgaben, die mir Tag für Tag gestellt werden. Es ist sehr, sehr naiv der Zahl zu glauben, die ein Intelligenztest produziert.“
„Intelligenz per se ist für mich weder gesellschaftlich noch moralisch noch individuell ein Wert an sich. Sondern der verantwortungsvolle Umgang mit der Intelligenz und das Leben, was die Rahmenbedingungen setzt, die Potentiale, die man hat, auch zu erschließen. Intelligenz ist ein Potential. Die Leistung, die nachher raus kommt, die hängt von vielen, vielen anderen Dingen ab.“
Kognitive Fähigkeiten sind ein Spiegel der Umwelt
In Zürich erforscht Elsbeth Stern, wie wir Menschen lernen, unsere Intelligenzpotentiale zu entwickeln. Intelligenz ist zum Teil eine Lotterie der Gene. Aber was braucht es, damit sich das individuelle Intelligenzpotential eines Menschen entwickeln kann?
„Intelligenz, die kann ich nur entfalten, wenn ich vor Probleme gestellt werde, die Intelligenz erfordern, wenn ich lesen und schreiben gelernt habe, wenn ich gelernt habe mit abstrakten Symbolen umzugehen, wenn mir die überhaupt präsentiert wurden. Man kann die allerbesten Gene für Intelligenz mitbringen, wenn man in eine Kultur kommt, wo weder lesen noch schreiben üblich ist, dann wird man nicht die Intelligenz, so wie wir sie verstehen, entwickeln können.“
Die Folgen von sozialer Vernachlässigung
Der Sozialpsychologe Richard Nisbett studiert seit Jahrzehnten die Folgen von sozialer Vernachlässigung auf die Entwicklung von Intelligenz. Nisbett ist zu hunderten Familien gegangen, hat Beobachtungen gemacht und Fragen gestellt: Und so Unterschiede bemerkt. Ein typisches Beispiel: Ein dreijähriges Kind einer Mittelklassefamilie wird sechsmal gelobt bevor es einmal getadelt wird. In einer Arbeiterfamilie ist das Verhältnis schon auf zwei Belobigungen pro Tadel gesunken. In einer schwarzen Unterschichtfamilie, hat sich das Verhältnis umgedreht: pro Belobigung gibt es zwei Tadel.
„Es gibt große Unterschiede in Bezug auf den Wortschatz, dem Kinder – je nach sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit ausgesetzt sind. Ein Kind der Mittelschicht hört bis zu seinem dritten Geburtstag ungefähr 30 Millionen Wörter. Ein Arbeiterkind rund 20 Millionen und ein schwarzes Ghettokind rund 10 Millionen Wörter. Über soziale Schichtgrenzen hinweg gilt: Je mehr Wörter man hört, desto mehr Konzepten ist man ausgesetzt. In Mittelklassefamilien ist es wie bei einem Tennisspiel. Das Kind schlägt den Ball zu den Eltern und die retournieren. Es ist ein hin- und her. In Arbeiterfamilien ist es oft eine Einbahnstraße: Eltern zum Kind oder umgekehrt. Und das war´s. Dort gibt es diesen Schlagabtausch nicht.“
Die Umwelt ist der treibende Faktor
Ist das Lernverhalten in Familien angeboren? Oder haben kulturelle und soziale Unterschiede den größeren Einfluss auf die intellektuellen Potentiale der Kinder? Die neuen Befunde der Intelligenzforschung deuten alle in eine Richtung: Die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen sind ein Spiegel seiner Umwelt.
„Für die obere Mittelschicht lässt sich der IQ in sehr starkem Maß durch die Gene erklären. Warum? Nun, dort sind die Umweltbedingungen sehr gleichförmig. Dr. Schmidts Familienverhältnisse sind wahrscheinlich nicht viel anders als die von Anwalt Meier. Beide bieten exzellente, gleichförmige Umweltbedingungen. Das einzige was hier noch Unterschiede hervorbringen kann, sind die Gene. Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums, in der Unterschicht in den USA und in Europa, ist der Zusammenhang zwischen Genen und IQ geradezu trivial fast nicht existent. Warum? Nun, in der Unterschicht rangieren die Verhältnisse von so gut wie man es in der oberen Mittelklasse findet bis zu in jeder Hinsicht chaotisch und zerstörerisch. Wenn es so riesige Unterschiede gibt, ist die Umwelt der treibende Faktor. Gene zählen dann so gut, wie überhaupt nicht.“
Intelligenz entwickelt sich proportional zur Stimulation
„Es gibt mehrere Faktoren, die für eine gesunde Entwicklung nötig sind. Einmal das genetische Potential des Kindes und dann natürlich die Bildung und welchen Leidensweg es hatte. Denn wenn ein Teller bricht, ist es sehr schwer ihn wieder zusammenzufügen. Selbst wenn man es schafft, wird es nicht mehr der Selbe sein. Es gibt keine 100-prozentige Erholung.“
Eine weltweit einmalige Studie
Doch welche Folgen hat die systematische Vernachlässigung von Kindern? Eine Frage, die Wissenschaftler interessiert. Isolationsexperimente an Menschen sind ethisch nicht vertretbar. Das „Bucharest Early Intervention Project“ ist deshalb eine weltweit einmalige Studie. Unter Aufsicht einer Ethikkommission entwickelten Wissenschaftlern der amerikanischen Harvard University ein außergewöhnliches Experiment. Die Forscher vergleichen die Entwicklung von Kindern, die gleich schlechte Startbedingungen in ihrem Leben hatten. Ein Teil von ihnen wurde in Pflegefamilien vermittelt. Die anderen mussten in Waisenhäusern zurückbleiben, weil es für über 150.000 Kinder in rumänischen Heimen 1990 einfach nicht genug Pflegefamilien gab. Die Studie brachte bahnbrechende Erkenntnisse.
„Je früher die Vernachlässigung eines Kindes beginnt, und je länger sie dauert, desto mehr wird die Hirnentwicklung und dadurch die Intelligenz beeinträchtigt. Diese Ergebnisse haben wir durch die Erforschung zweier Gruppen bestätigen können. Die Heimkinder bekamen, verursacht durch zu wenig Betreuung und emotionale Zuneigung, weiterhin eine sehr geringe Stimulation, während die Pflegekinder durch die enge familiäre Betreuung eine viel größere emotionale Stabilität aufbauen konnten.“
Deutliche Unterschiede der Hirnströme
Schon die ersten Messungen der Hirnströme zeigten bei den Kindern, die im Heim verbleiben mussten, eine deutlich geringere elektrische Aktivität, die auch mit einem sehr geringen IQ von knapp 70 korrespondierte. Kinder, die in Pflegefamilien aufwuchsen, hatten dagegen einen IQ von 80 bis 90. Das Aufwachsen in Pflegefamilien steigerte offensichtlich die Intelligenz. Doch Hirnscans brachten auch ein deprimierendes Ergebnis: Alle Kinder der Studie zeigten im Vergleich zu normal aufwachsenden Kindern eine deutliche Reduzierung von grauen Zellen und weißer Materie im Gehirn.
„Wenn die Vernachlässigung eines Kindes schon früh beginnt und lange anhält, ist eine Erholung fast unmöglich, denn die neuronalen Verbindungen im Gehirn eines Kindes, das Missbrauch oder Vernachlässigung erfährt, entwickeln sich nicht richtig. Wenn diese neuronalen Verbindungen gestört sind, können sie ihre Intelligenz nicht entwickeln.“
Der Einfluss der Gene ist flexibel und veränderbar
Intelligenz braucht eine stimulierende Umwelt
Das Ergebnis ist eindeutig: Durch das Fitnesstraining zeigen sich die sportlichen Mäuse bei den Gedächtnistests leistungsfähiger als die untrainierten Nager. Ein tiefer Blick in den Hippocampus der Mäuse – das ist der Teil im Gehirn mit den evolutionär ältesten Strukturen – erklärt warum.
„Was man sieht, ist das dieses Muster von 700 Genen korreliert mit der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Aktivität der Gene in den Nervenzellen in dieser Hirnregion, die wichtig ist für die Gedächtnisabspeicherung korreliert. Es gibt halt Gene, die sind blau, und die werden rot, je besser die Maus den Test lernt.“
„Ich bin auch ganz sicher, dass in Migrantenpopulationen in Deutschland sehr viel IQ-Potential schlummert, was sich bisher nicht entfalten konnte. Wahrscheinlich bei Mädchen und Jungen gleich viel, weil die Kinder nicht früh sprachlich gefördert wurden, weil die Schulbildung wegen Sprachproblemen an ihnen vorbei gegangen ist. Also da ist sicherlich mehr zu holen, als wir bisher rausholen, und das ist ein schlimmes Versäumnis.“