Migrationshintergrund

Alle sprechen vom Migrationshintergrund. Aber was bedeutet das eigentlich?

„Herdprämie“ wurde das Unwort 2007 – „Migrationshintergrund“ hätte es aber auch gut sein können. Seit vergangenem Jahr verfolgt mich dieser Begriff auf Schritt und Tritt, denn er trifft wohl auf mich zu, der Migrationshintergrund. Wann immer ich mich umschaue, ist er da, lauernd, abwartend, jederzeit bereit zuzuschlagen. Er lässt sich nicht abschütteln, lastet auf mir und zieht die Empörung der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf sich.

Mein Vater kam vor über 40 Jahren aus Westafrika nach Deutschland; zugewandert ist er übrigens nicht, er kam als Student mit dem Flugzeug. Hier lernte er meine Mutter kennen, gründete eine Familie und blieb – ein Afrikaner mit deutschem Pass. Auch das ist ein Ergebnis der jahrzehntelangen „Und wann gehst du wieder nach Hause?“-Politik. Daher empfand ich zunächst Freude über die späte Erkenntnis, dass „Deutschsein“ auch anders aussieht als blond und blauäugig. Ich bin jetzt Teil einer ethnischen Minderheit mit Hintergrund! Klingt solide. Nur leider steckt dahinter ein Problem, das man abschieben oder einsperren muss, und das meint nicht nur der hessische Ministerpräsident Roland Koch. Dabei wirbelt er die Begriffe bunt durcheinander, spricht mal von „Ausländern“, mal von „Migrantenhintergrund“. Wer aber ist gemeint?Alle reden also vom Migrationshintergrund, aber wer hat ihn eigentlich? Und wer nicht? Wo fällt er ins Gewicht und wo nicht? Wie viele Generationen braucht es, bis er verschwindet? Haben meine Kinder, die wie ich selbst in Deutschland geboren sind, einen Migrationshinterhintergrund? Gibt es qualitative Unterschiede hinsichtlich der Migrationsherkunft? Haben ehemalige DDR-Bürger auch einen Migrationshintergrund und daher öfter Integrationsschwierigkeiten?Fragt man im (zweifellos nicht repräsentativen) Freundeskreis danach, wie das mit dem Migrationshintergrund gesehen wird, ist das Fazit: Er spielt für die Umwelt keine Rolle – solange er sich nicht durch Aussehen oder Sprache verrät, wobei das Aussehen besonders ins Gewicht fällt. Das bedeutet: Wer nicht deutsch „aussieht“, gilt noch immer als „nicht von hier“, auch wenn er oder sie in Deutschland geboren oder aufgewachsen ist und hier seit Jahren lebt. Unauffällig integrieren – das ist für den frisch eingewanderten Franzosen leichter als für den schwarzen Deutschen der vierten Generation. Der Migrationshintergrund bleibt sichtbar. Ich will es genau wissen. Gibt es eine eindeutige wissenschaftliche Definition des Begriffs? Der Blick ins Internet hilft nicht weiter. In Wikipedia hat jemand dazu geschrieben: „Migrationshintergrund ist ein Ordnungskriterium der bundesdeutschen amtlichen Statistik zur Beschreibung einer Bevölkerungsgruppe mit einem Syndrom an Merkmalen.“ Hilfe, ein Syndrom! Das klingt bedrohlich. Sollte ich den Arzt aufsuchen? Ist es ansteckend? Gibt es eine Therapie?Der Mikrozensus 2005 des Statistischen Bundesamts, der im vergangenen Jahr erschienen ist, gibt Entwarnung. Danach litten im Jahre 2005 15,3 Millionen Menschen in Deutschland an demselben Syndrom, was bedeutet, dass etwa ein Fünftel der bundesrepublikanischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Mehr noch, man unterteilt nach Migrationshintergrund und Migrationserfahrung. Laut Definition gehöre ich zu den „Personen mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn (i. w. S.)“, da „dieser Migrationshintergrund sich dann ausschließlich aus den Eigenschaften der Eltern ableitet. Die Betroffenen können diesen Migrationshintergrund aber nicht an ihre Nachkommen ‚vererben’“. Gott sei Dank, es ist nicht vererbbar! Das bedeutet, dass meine Kinder statistisch keinen Migrationshintergrund mehr haben. Warum werden sie dann noch immer nach ihrer Herkunft gefragt?Ich will auch gar nicht, dass sie ihre afrikanischen Wurzel vergessen, sondern stolz darauf sind. Wenigstens können sie dabei auf die Migrationserfahrung ihres Großvaters zurückgreifen.

ZEIT Online v. 22.01.2008

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